پنجشنبه
Interpretation der Erzählung „Der Jäger Gracchus“
von Franz Kafka
Mahmood Falaki
www-mahmood-falaki.com

„Der Jäger Gracchus“ ist die Geschichte der Wanderung des tot-lebendigen Jägers in einem Todeskahn. Er ist „vor vielen Jahren“ infolge eines Sturzes „von einem Felsen“ im Schwarzwald bei der Verfolgung einer Gemse gestorben. Der Jäger Gracchus wurde auf einer Bahre davongetragen und in eine fremde Stadt, mit Namen Riva, gebracht.

Gracchus ist tot und zugleich lebendig. Als der tote Gracchus auf die Bahre gelegt wurde, schlug er plötzlich die Augen auf und sprach mit dem Bürgermeister von Riva. „Die Möglichkeit, mitten im Leben den Tod sich stets gegenwärtig zu halten, die Möglichkeit, die Voraussetzung jeder wahren ´geistigen` vollkommenen menschlichen Existenz auf Erden wäre“, so Emrich, „ist für die der Arbeit verfallenen Welt ´unverständlich` geworden.“[1] Emrich interpretiert diese Erzählung als die Geschichte des Menschen des 20. Jahrhunderts, wobei er sich durch „Arbeit“ und „Geschäft“ usw. begrenzt und „das Ganze ihm entfällt.“[2]

Es ist unbestritten, dass der Entfremdungsprozess durch die Arbeit in Kafkas Werken intensiv dargestellt wird, was ich in dem Abschnitt „Kafka und sein Berufskonflikt" zu erörtern versuchte. Aber wenn man alle Erzählungen nicht gleichermaßen an Wirklichkeitsverhaftung messen würde, mit anderen Worten, wenn man den Text unmittelbar zu sich sprechen lässt, erfährt man die andere Dimension dieser Erzählung.
Der Handlungsverlauf der Erzählung steht weder mit Arbeit noch mit Geschäft in Verbindung. Diese Erzählung ist die Geschichte eines Jägers, der „seit Jahrhunderten“[3] von der Jägerzeit, vom Urbeginn bis zum 20. Jahrhundert in der Moderne unwillkürlich „durch alle Länder der Erde“[4] wanderte, wie der Jäger selbst erklärt:

„Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat[...] so reise ich, der nur in seinen Bergen leben wollte, [...] durch alle Länder der Erde.“[5]

Das Verfehlen der Fahrt durch „eine falsche Drehung des Steuers“ umschreibt das Misslingen der Entwicklung der Menschheit, wodurch man nicht mehr sein Eigenes, seine „wunderschöne Heimat“ in sich bewahren kann; oder wie Adorno philosophiert: „Die Preisgabe seiner individuellen Züge, die Aufdeckung des wimmelnden Grauens unter dem Stein der Kultur markiert den Verfall von Individualität selber[...] Das Grauen jedoch ist, das der Bürger keinen Nachfolger fand[...] So ist es dem Bürgertum misslungen.“[6]

Der Verfall der Individualität, der zu Verzweiflung, Isolation, Einsamkeit und damit verbundener Entfremdung führt, ist in dieser Erzählung nicht nur allein für das entfremdete Subjekt des 20. Jahrhundert zutreffend, wo der Mensch „die Ganzheit der Welt und auch sich selbst“ verlor und versank in dem, was Heidegger „Seinsvergessenheit“ nennt.[7] Diese Erzählung stellt das entfremdete Subjekt in einer Zeit-Irrfahrt dar, die durch die ganze Geschichte der Menschheit führt. In dem Augenblick, in dem Gracchus durch Verfehlen der Fahrt seine Heimat verlassen musste, wandert er als ein ewiger Fremder „durch alle Länder der Erde“, bis er in einer modernen Stadt landet.


Die Eingangspartie der Erzählung stellt die Nachmittagsstunden im kleinen Hafen von Riva dar, wo Ruhe und anscheinend friedvolle Stimmung herrschen:

„Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten
Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen eines
Denkmals im Schatten der säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen
am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte[...] In der Tiefe einer Kneipe sah man durch die leeren Tür- und Fensterlöcher zwei Männer beim Wein. Der Wirt saß vorn an einem Tisch[...] eine Frau[...]“[8]

In dieser ruhigen Atmosphäre, wo Spannungslosigkeit, Gleichgültigkeit und Abgeschlossenheit der einzelnen Menschen zur Schau gestellt wird, läuft eine Barke in den Hafen ein, zwei Männer „in dunklen Röcken“ heben eine Bahre von der Barke und tragen sie ans Land. Auf der Bahre liegt ein scheintoter Mann. Die Menschen im Hafen nehmen nicht nur ihre Mitbewohner nicht wahr, nicht nur voneinander sind sie entfremdet, sie ignorieren auch die fremden Ankömmlinge:

„Auf dem Quai kümmert sich niemand um die Ankömmlinge, selbst als sie die Bahre niederstellten, um auf den Bootsführer zu warten[...] trat niemand heran, niemand richtete eine Frage an sie, niemand sah sie genauer an.“[9]

Diese Beschreibung und die vorherige Szene von Menschen am Hafen sind eine Analogie zu der vorher erwähnten Szene des Amerika-Romans, in der das „Grüßen abgeschafft war.“ Diese extreme Art von Ignorieren verkündet zum einen der Verlust der Sensibilität und Neugier der Menschen, zum anderen zeigt es die Unwahrnehmbarkeit des Fremden durch das Gastgebervolk.

Die Kinder sind aber in diesem Zusammenhang anders. Während die Erwachsenen ohne Wahrnehmung der anderen allein irgendwo „saßen“, spielten zwei Knaben miteinander und der Einzige, der die Fremden wahrnimmt, ist ein kleiner Junge:

„Ein kleiner Junge öffnete ein Fenster, bemerkte noch gerade, wie der Trupp im Haus verschwand.“[10]

Kindheit als ein Motiv in der Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts „steht für ein ursprüngliches und authentisches Dasein, sie figuriert eine von der modernen Zivilisation noch nicht korrumpierte Daseinsform., die sich durch eine besondere Sensibilität für das Wesentliche auszeichnet.“[11]

Das Kindheitsmotiv wird dementsprechend noch stärker hervorgehoben, als die Bahre in ein "zweistöckiges Haus" gebracht wird, in dessen Flurgang "fünfzig kleine Knaben ein Spalier bildeten[...] und sich beugten." (S. 385f)

Die Anwesenheit der sich beugenden Knaben als ursprüngliches Dasein steht mit dem vom Urbeginn kommenden Jäger in Einklang.

Der Jäger wird „in einem kühlen, großen Raum an der Hinterseite des Hauses“ gebracht, „dem gegenüber kein Haus mehr, sondern nur kahle, grauschwarze Felsenwand zu sehen war.“[12] Fremdheitssphäre wird hier durch eine „grauschwarze Felsenwand“, die Abgeschlossenheit von der Außenwelt, abgebildet. Diese Abgeschlossenheit wird dann verstärkt, als der Bürgermeister an allen anwesenden, den fünfzig Knaben und den Bootsführern vorüberschreitet und die Tür geschlossen wird. Der Bürgermeister blieb allein mit dem Jäger und „trat zur Bahre, legte eine Hand dem Daliegenden auf die Stirn, kniete dann nieder und betete.“[13]

Der Bürgermeister spielt hier eine Doppelrolle. Zum einen ist er das städtische Oberhaupt, ein Bureaukrat, der Gracchus offiziell empfängt. Seine bürokratische Rolle wird dann veranschaulicht, als Gracchus fragt, ob er in Riva bleiben solle. Der Bürgermeister antwortet: „Das kann ich noch nicht sagen.“ Diese Antwort und die Fragen des Bürgermeisters an den Jäger werden so gestellt, als vorhöre er den Angeklagten. Er weiß nicht, ob der Jäger in Riva bleiben soll, weil er, als bloßer Vernehmer, über den Angeklagten nicht entscheiden kann, er sollte nur Informationen für das Gericht sammeln, er sollte nach einer Schuld suchen. Ein Fremder, der nie in ein Gastgeberland getreten ist, hat, wie alle andren Bürger, wie Josef K., Schuld, ohne irgendwelche Verbrechen begangen zu haben: „Die Strafe sucht die Schuld.“

Als der Jäger die Geschichte von seinem Tod und seiner ewigen Wanderung erzählt, fragt der Bürgermeister mit „abwehrend erhobener Hand“: „Und Sie tragen gar keine Schuld daran?“

Die Frage nach Schuld, welche für den Jäger unverständlich ist, zeigt zwei unterschiedliche Welten: Eine Welt, in der das ursprüngliche Dasein noch keine Schuld kennt, und eine andere Welt, nämlich die geschichtliche Welt, wo die Individualität verfällt und die Menschen nach dem Maß ihrer „Schuld“ gemessen werden.
Die herrschende Rolle der bürokratischen Organisation, die alles kontrolliert, um ihre Macht auszuüben, ist auch in anderen Erzählungen und Romanen Kafkas vorhanden, was Kafka Verflechtung von „Amt und Leben“ nennt:
„Nirgends noch hatte K. Amt und Leben so verflochten gesehen wie hier, so verflochten, dass es manchmal scheinen konnte, Amt und Leben hätten ihre Plätze gewechselt.“[14]
Der Bürgermeister spielt aber, neben seinem Verhalten als Behörde, auch die Rolle der göttlichen Instanz: Er legte seine Hand dem liegenden Jäger auf die Stirn, „kniete dann nieder und betete.“[15] Dann schlug der tote Jäger seine Augen auf und fragte. „Wer bist du?“ Nach dieser erlösenden Tat des Bürgermeisters erzählt er, im Gespräch mit dem Jäger, dass er durch eine Taube von des Jägers Ankommen erfahren habe:

„Es war wirklich eine Taube, aber groß wie ein Hahn. Sie flog zu meinem Ohr und sagte: ‘Morgen kommt der tote Jäger’[...]“[16]
Durch diese märchenhaft-religiöse Geschichte, in der die Taube als christliches Symbol auftritt, wird „die Passion Christi gegenwärtig.“[17] Diese Wirkung wird durch den Namen des Bürgermeisters „Salvatore“ (Salvator=Erlöser)[18] noch intensiviert. Die Doppelrolle des Bürgermeisters bzw. die Mischung von Behörde und göttlicher Instanz beweist, dass die ursprüngliche Wahrheit ihre Existenz verloren hat.

In der Modernität verliert sogar Christus sein Ich. Er ist auch verfremdet. Er ist kein heiliger Geist mehr, sondern ein Beamter, ein Verhörer. Diese Art von Verfremdung bzw. Verwandlung durch Entwertung der Dinge zeigt die absolute Fremdheitssphäre, wobei der Jäger zum Schmetterling und Christus zum Bürgermeister geworden sind. Dieser Pessimismus bei Kafka, weist auch darauf hin, dass Enttäuschung, Verzweiflung, Einsamkeit und Fremdheit, als Kafkas charakteristische Merkmale, nicht eine persönliche Wahrheit, sondern eine universelle Wahrheit sind. Dies bestimmt auch die ewige Wanderung der Menschheit, die in ihrer entfremdeten Existenz ihre „wunderschöne Heimat“, ihr Eigen, verloren hat.

Bei Interpretation dieser Erzählung kehren manche Interpreten auf ein expressionistisches Thema zurück, nämlich Konflikt zwischen Beruf und künstlerischer Berufung. Z.B. interpretiert Valk die tot-lebendige Sphäre des Jägers wie folgt: „Die Existenzproblematik des Jägers und modernen Künstlers ist gleichermaßen unaufhebbar.“[19] Aber die Erzählung thematisiert eine geschichtliche universelle Problematik, die alle Menschen betrifft. Es beschränkt sich nicht auf den Künstler in Verbindung mit seinem Beruf. Die Erzählung handelt von der Vertreibung des Jägers aus seiner „wunderschönen Heimat“, wo er „glücklich“ war. Er musste wie Odradek auf die „unendliche Freitreppe“ wandern.

„Ich bin immer auf der großen Treppe, die hinaufführt. Auf dieser unendlich weiten Freitreppe treibe ich mich herum, bald oben, bald unten, bald rechts, bald links, immer in Bewegung.“[20]

Er ist nicht mehr der, der er irgendwann zu Urbeginn war: „Aus dem Jäger ist ein Schmetterling geworden.“[21] Er lebt wie Odradek an einem „unbestimmten Wohnsitz“.[22]

In seiner Interpretation versucht Valk die Existenzproblematik zu verdeutlichen: „Die Kommunikation zwischen dem Jäger und seiner Umwelt ist ebenso abgebrochen wie das Verhältnis zwischen dem autonomen Künstler und seinem potentiellen Publikum[...]“[23]

Die Handlung der Erzählung spricht aber gegen diese Deutung. Der neugierige Junge, der „ein Fenster öffnet“, und die fünfzig gebeugten kleinen Knaben sind eigentlich des Jägers ursprüngliches „Publikum“. Sie gehören der noch nicht korrumpierten Daseinsform zu, welche in Zukunft wiederkehren könnte. Aus dieser Perspektive könnten sie die Hoffnung symbolisieren, was als verborgene Lichtblicke in Kafkas Welt zu entdecken wäre.

Die Kommunikation des Jägers mit seiner Umwelt mit dem Verhältnis des modernen Künstlers zu seinem Publikum zu vergleichen, ist auch deswegen nicht zulässig, weil der Künstler jeder Epoche das Publikum seiner Generation gewinnt. Der moderne Künstler gewinnt entsprechend das moderne Publikum. Außerdem sind die Figuren, nicht nur in „Der Jäger Gracchus“, sondern auch in den relevantesten Erzählungen und Romanen Kafkas, einfache Menschen, deren entfremdete Existenz in ihrem einfachen alltäglichen Leben dargestellt wird. Die Figuren von „Die Verwandlung“, „Das Schloss“ oder „Der Prozess“ u. a. sind einfache Beamte, ohne jeden künstlerischen Anspruch und ohne bestimmte politisch-ideologische Gesinnungen. Sie vertreten die gesamte Menschheit. So landet beispielsweise der Landvermesser K. in einem namenlosen Dorf, wo das Leben noch einfach ist. Die einzige Erscheinung der Moderne ist ein Telefon, wodurch die Verwirrung in der Verwaltung des unerreichbaren Schlosses, das eigentlich kein Schloss ist, herbeigeführt wird. Die Namenlosigkeit des Dorfes und das Nebeneinander von Einfachheit und Modernität weist darauf hin, dass dieses Zeit-Raum-Gefüge für die ganze Geschichte der Menschheit gilt. In diesem Zusammenhang ist Emrich zuzustimmen, dass Kafka „ein großer Gestalter der universellen Wahrheit“ sei.[24]
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[1] Wilhelm Emrich; Franz Kafka. Bonn 1958, S. 19f
[2] ebd.
[3] Franz Kafka; Sämtliche Erzählungen. hrsg. von Paul Raube. Frankfurt a. M. S. 288
[4] a.a.O., S. 287
[5] ebd.
[6] Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. Gesammelte Schriften 10. I. 1977, S. 273
[7] Milan Kundera; Die Kunst des Romans. Aus dem französischen von Brigitte Weidmann. Frankfurt a. M. 1989, S. 11
[8] Franz Kafka; Sämtliche Erzählungen, S. 285
[9] ebd.
[10] ebd.
[11] Thorsten Valk; Der Jäger Gracchus. In: Interpretationen-Franz Kafka. Romane u. Erzählungen. Hrsg. von Michael Müller. Stuttgart 2003, S. 337
[12] Franz Kafka; Sämtliche Erzählungen, S. 286
[13] ebd.
[14] Franz Kafka; Das Schloss. hrsg. von Max Brod. Frankfurt a. M. 1983, S. 59
[15] Franz Kafka; Sämtliche Erzählungen, S. 286
[16] ebd.
[17] Valk, S. 339
[18] ebd.
[19] a.a.O., S. 343
[20] Franz Kafka; Sämtliche Erzählungen, S. 287
[21] ebd.
[22] a.a.O., S. 140
[23] Valk, S. 343
[24] Emrich, ders. S. 12
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