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Saturday
„Schlüssel für die Psychoanalyse”
Ein Gespräch mit Jacques Lacan[1]
Aus dem Französischen von Hans-Peter Jäck und Claus-Volker Klenke
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Ein Psychoanalytiker, das ist etwas ziemlich Einschüchterndes. Man hat das Gefühl, dass er einen nach Belieben manipulieren könnte ..., dass er mehr als wir selbst über die Motive unseres Handelns weiß.
Dr. Lacan: Überschätzen Sie das nicht. Und glauben Sie denn, dass dieser Effekt speziell der Psychoanalyse eigen ist? Ein Ökonom ist bei weitem ebenso mysteriös wie ein Analytiker. Heutzutage ist es die Person des Experten, die einschüchtert.
Hinsichtlich der Psychologie glaubte jeder, obwohl sie eine Naturwissenschaft ist, dass man dazu einen inneren Zugang hätte.
Bei der Psychoanalyse nun hat man das Gefühl, dass dieses Privileg schwindet, dass der Analytiker in der Lage wäre, in dem, was Ihnen das Allerklarste scheint, etwas noch Verborgeneres zu sehen. Jetzt sind sie nackt und ungeschützt dem ge­schulten Blick ausgesetzt, ohne genau zu wissen, was Sie ihm zeigen.


Das andere Subjekt

— Es gibt da so eine Art Terrorismus, man fühlt sich gewaltsam aus sich herausgerissen ...
In der menschlichen Ordnung trägt die Psychoanalyse in der Tat all die Züge von Subversion und Skandal, wie sie in der kosmischen die kopernikanische Dezentrierung der Welt haben konnte: Die Erde, die Heimstatt des Menschen, ist nicht mehr das Zentrum der Welt!
Und jetzt verkünden Euch die Psychoanalytiker, dass Ihr nicht mehr das Zen­trum Eurer selbst seid, weil es in Euch ein anderes Subjekt gibt — das Unbewußten.
Das ist eine Neuigkeit, die nicht sofort akzeptiert worden ist. Allein dieser angebliche Irrationalismus, den man Freud hat überstülpen wollen! Dabei handelt es sich genau ums Gegenteil: Nicht nur hat Freud eben das rational gefasst, was sich bisher der Rationalisierung widersetzte, er hat auch eine widerspenstige Vernunft [une raison raisonnante] als solche in Aktion gezeigt, ich meine eine, die ohne Wissen des Subjekts gleichsam wie eine Logik funktioniert und denkt — und dies noch dazu auf dem Feld, das klassischerweise der Unvernunft reserviert war, nennen wir es: das Feld der Leidenschaft.
Das war es, was man ihm nicht verziehen hat. Man hätte noch akzeptiert, dass er den Begriff der sexuellen Kräfte einführt, die sich plötzlich, ohne Vorwarnung und außerhalb jeder Logik des Subjekts bemächtigen; aber dass die Sexualität der Ort einer Rede und dass die Neurose eine Krankheit sei, die spricht — das ist nun eine zu verrückte Sache, und selbst seine Schüler ziehen es vor, von anderen Dingen zu reden.
Man sollte im Analytiker keinen „Ingenieur der Seele” sehen; er ist kein Physiker, sein Vorgehen besteht nicht darin, Kausalbeziehungen festzustellen: seine Wissenschaft ist vielmehr eine Lektüre, eine Lektüre des Sinns.
Das ist zweifellos auch der Grund, warum man dazu neigt, den Analytiker, ohne genau zu wissen, was sich hinter den Türen seines Sprechzimmers verbirgt, für einen Zauberer zu halten — und noch dazu für einen größeren als die anderen.
Und wer hat diese schrecklichen, nach Schwefel riechenden Geheimnisse entdeckt ...?
Man muss zunächst noch präziser fassen, welcher Art diese Geheimnisse sind. Es sind keine Geheimnisse der Natur, wie sie die Physik oder die Biologie haben entdecken können. Wenn die Psychoanalyse Licht in die Tatsachen der Sexualität bringt, dann nicht, indem sie sie in ihrer Realität oder in Form biologischer Erfahrung angeht.


Artikuliert und dechiffrierbar

Aber Freud hat doch, so etwa, wie man einen neuen Kontinent entdeckt, ein neues Reich des Psychischen entdeckt, das man „Unbewußten” oder auch anders nennt? Freud ist doch ein Christoph Columbus!
Man hätte nicht auf Freud warten brauchen, um zu erfahren, dass es einen ganzen Teil psychischer Vorgänge gibt, die nicht dem Bewusstsein unterliegen! Wenn Sie schon einen Vergleich machen wollen, dann wäre Freud eher ein Champollion[2]. Die Freudsche Erfahrung liegt nicht auf der Ebene der Instinktorganisation oder der vitalen Kräfte. Sie deckt diese nur als welche auf, die — wenn ich so sagen darf eine sekundäre Macht ausüben.
Freud beschäftigt sich nicht mit den Effekten des Instinkts als einer primären Macht. Was analysierbar ist, ist dies insofern, als es schon artikuliert ist in dem, was die Einzigartigkeit der Geschichte des Subjekts ausmacht. Wenn sich das Subjekt darin wieder erkennen kann, dann in dem Maße, wie die Psychoanalyse die „Übertragung” dieser Artikulation erlaubt.
Anders gesagt, wenn das Subjekt „verdrängt”, dann heißt das nicht, dass es sich weigert, sich so etwas wie eines Instinkts bewusst zu werden – etwa eines sexuel­len Instinkts, der sich in homosexueller Form zeigen möchte –, nein! das Subjekt verdrängt nicht seine Homosexualität, sondern die Rede, in welcher diese Homo­sexualität eine Rolle als Signifikant spielt.
Sie sehen, es ist nicht Vages oder Konfuses, was da verdrängt wird; es ist keine Art Bedürfnis oder Neigung, die hätte artikuliert werden sollen (und sich nicht artikulierte, weil sie verdrängt wurde), sondern ein schon artikulierter, schon in einer Sprache formulierter Diskurs. Alles ist schon da.
– Sie sagen, dass das Subjekt einen in einer Sprache artikulierten Diskurs ver­drängt. Trotzdem ist es nicht das, was man verspürt, wenn man sich einer Person mit psychischen Problemen gegenübersieht, jemandem mit Ängsten etwa, oder einem Zwangsneurotiker. Deren Verhalten erscheint uns doch vor allem absurd und inkohärent; und auch wenn man ahnt, dass es letztlich doch etwas bedeuten könnte, so wäre das etwas Verschwommenes, das sich nur stammelnd und weit unterhalb der sprachlichen Ebene bemerkbar macht.
Und wenn es einem selbst passiert, dass man sich von dunklen Kräften ergriffen fühlt, die man als „neurotische” zu erkennen meint, so zeigen diese sich gerade in irrationalen Anwandlungen, die von Verwirrung und Angst begleitet sind!
Wenn Sie Symptome zu erkennen glauben, so erscheinen Ihnen diese nur deshalb irrational, weil Sie sie isoliert betrachten und weil Sie sie direkt interpretieren wollen.
Sehen Sie sich einmal die ägyptischen Hieroglyphen an: Solange man danach gesucht hat, welches der unmittelbare Sinn der Geier, der Hühnchen, der stehenden, sitzenden oder gestikulierenden Männchen war, ist die Schrift unentzifferbar geblieben. Denn das kleine Zeichen „Geier” für sich allein bedeutet nichts; seinen bedeutungstragenden Wert findet es erst in der Gesamtheit des Systems, dem es angehört.
Nun, genauso ist es bei den Phänomenen, mit denen wir es in der Analyse zu tun haben; sie sind von einer sprachlichen Ordnung.
Der Psychoanalytiker ist kein Erforscher unbekannter Kontinente oder großer Tiefen, er ist ein Linguist: Er lernt, die Schrift zu entziffern, die da ist, vor seinen Augen und offen für den Blick aller, sie bleibt aber solange undechiffrierbar, wie man ihre Gesetze, den Schlüssel, nicht kennt.

Das Verdrängen einer Wahrheit

– Sie sagen, dass diese Schrift „offen für den Blick aller” ist. Wenn indessen Freud etwas Neues gesagt hat, dann doch, dass man auf psychischem Gebiet krank ist, weil man verschleiert, weil man einen Teil seiner selbst verbirgt, weil man „verdrängt”.
Nun waren die Hieroglyphen aber nicht verdrängt, sie waren auf Stein ge­schrieben. Ihr Vergleich kann also doch wohl nicht aufgehen?
Im Gegenteil, man muss ihn buchstäblich nehmen: Was es in der Analyse des Psychismus zu dechiffrieren gibt, ist die ganze Zeit über da, es ist von Anfang an gegenwärtig. Sie reden vom Verdrängen und vergessen dabei eines, nämlich dass für Freud, und so, wie er es formuliert hat, die Verdrängung untrennbar mit einem Phänomen verbunden ist, das die „Wiederkehr des Verdrängten” heißt.
Da wo's verdrängt war, funktioniert etwas weiter, spricht etwas weiter – dank dessen man übrigens den Ort der Verdrängung und der Krankheit einkreisen, bezeichnen und sagen kann: „da ist's”.
Dieser Begriff ist schwer zu verstehen; denn wenn man von „Verdrängung” spricht, stellt man sich sofort einen Druck vor – einen Harndrang etwa –, das heißt eine verschwommene, undefinierbare Masse, die mit ihrem ganzen Gewicht gegen eine Tür drückt, die man sich ihr zu öffnen weigert.
Nun ist die Verdrängung in der Psychoanalyse aber nicht die Verdrängung einer Sache, sondern die einer Wahrheit.
Was aber geschieht, wenn man eine Wahrheit verdrängen will? Die ganze Geschichte der Gewaltherrschaften tut nichts anderes, als Ihnen die Antwort zu geben: Die Wahrheit kommt anderswo zum Ausdruck, in einem anderen Register, chiffriert, in einer Geheimsprache.
Nun, das genau ist es, was mit dem Bewusstsein geschieht: Verdrängt, lebt die Wahrheit fort, doch transponiert in eine andere Sprache, die Sprache des Neuroti­kers.
Hier ungefähr ist man an dem Punkt angelangt, wo man nicht mehr in der Lage ist zu sagen, welches das Subjekt ist, das spricht, wohl aber, dass „es” spricht, dass „es” weiter spricht; und was sich ereignet, ist gänzlich entzifferbar auf eben die Weise – das heißt nicht ohne Schwierigkeiten –, wie eine verlorene Schrift entzifferbar ist.
Die Wahrheit ist nicht vernichtet, sie ist nicht in einen Abgrund gefallen, sie ist da, offen, präsent, aber „unbewusst” geworden. Das Subjekt, das die Wahrheit verdrängt hat, ist nicht mehr Herr im Haus, es steht nicht mehr im Zentrum seines Diskurses: Die Dinge funktionieren von ganz allein weiter, der Diskurs artikuliert sich weiter, aber außerhalb des Subjekts. Und dieser Ort, dieses Außerhalb-des-Subjekts, ist im strengen Sinne das, was man das Unbewußten nennt.
Sie sehen also, dass das, was man verloren hat, nicht die Wahrheit ist, sondern der Schlüssel zu der neuen Sprache, in der sie sich nunmehr ausdrückt. Und genau da greift der Psychoanalytiker ein.


Die Hängematte

— Ist das nicht Ihre eigene Interpretation? Es scheint nicht die von Freud zu sein?
Lesen Sie doch die Traumdeutung, lesen Sie die Psychopathologie des Alltagsle­bens, lesen sie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten — es genügt, diese Werke an irgendeiner Stelle aufzuschlagen, um genau das zu finden, was ich Ihnen sage.
Zum Beispiel der Terminus „Zensur” — warum hat Freud eben auf der Ebene der Traumdeutung sofort ihn gewählt, um das hemmende Beharren, um die Kraft, die verdrängt, zu bezeichnen? Wir wissen doch recht gut, was das ist, die Zensur: die Anastasie[3], ein Zwang, der mit einer Schere ausgeübt wird. Und auf was? Nicht auf irgendeinen Dunst in der Luft, sondern auf das, was gedruckt wird, auf einen Diskurs, der sich in einer Sprache ausdrückt.
Ja, die linguistische Methode ist bei Freud auf jeder Seite gegenwärtig; die ganze Zeit beschäftigt er sich konkret mit Verweisen, Analogien, linguistischen Ansätzen ...
Und letztlich verlangt man in der Psychoanalyse immer nur eins vom Kran­ken, eine einzige Sache: zu sprechen. Wenn es die Psychoanalyse gibt, wenn sie Wirkungen hat, dann jedenfalls einzig und allein in der Ordnung des Geständnis­ses und der Rede!
Für Freud also, was mich betrifft, entsteht die menschliche Sprache bei den Geschöpfen nicht so wie eine Quelle entspringt.
Sehen Sie sich an, wie man uns alle Tage die Lernerfahrungen eines Kindes begreiflich machen will: Es legt den Finger auf den Herd, es verbrennt sich. Von da an, behauptet man, von dieser Begegnung mit Heiß und Kalt, mit der Gefahr an, brauche es nur noch zu deduzieren, um sich die Gesamtheit der Zivilisation zusammenbasteln!
Das ist absurd: Mit der Tatsache, dass es sich verbrennt, steht es vor etwas viel Bedeutenderem als der Entdeckung von Heiß und Kalt. Nämlich, dass es sich verbrennt und dass (es) sich immer jemand (er)findet [qu'il se trouve toujours quelqu'un], einen ganzen Diskurs darüber mit ihm anzuknüpfen.
Das Kind muss sehr viel größere Anstrengungen unternehmen, um in diesen Diskurs einzutreten, mit dem man es überschwemmt, als sich daran zu gewöh­nen, die Finger vom Herd zu lassen.
Mit anderen Worten, der Mensch, der auf die Welt kommt, hat zuallererst mit der Sprache zu tun: Sie ist eine Gabe. Er ist bereits vor der Geburt darin einbegriffen – hat er nicht sogar so etwas wie einen zivilrechtlichen Status?
Ja, das Kind, das geboren werden soll, ist von Kopf bis Fuß von dieser Hängematte der Sprache umschlossen, die es empfängt und im selben Moment einsperrt.


Unchiffriert, auf alle Fälle

– Was es schwer macht, die Annäherung der neurotischen Symptome oder die Neurose an eine vollkommen artikulierte Sprache zu akzeptieren ist, dass man nicht weiß, an wen sie sich wendet. Sie ist für niemanden gemacht, denn der Kranke, ja vor allem er, versteht sie nicht, und es bedarf eines Spezialisten, um sie zu entziffern! Die Hieroglyphen waren vielleicht unverstehbar geworden, aber zu der Zeit, als man sie verwendete, dienten sie dazu, bestimmten Leuten bestimmte Dinge mitzuteilen.
Was soll das nun für eine neurotische Sprache [langage] sein, die nicht nur eine tote und auch nicht nur eine Privatsprache [langue privée] ist, ihm selbst aber unverständlich bleibt?
Und dann ist eine Sprache doch etwas, dessen man sich bedient. Und dieser hier ist man unterworfen. Denken wir an den Zwangsneurotiker: er würde seine fixe Idee gerne verjagen, aus diesem Räderwerk ausbrechen ...
Genau das sind die Paradoxien, die Gegenstand der Entdeckung sind. Wenn diese Sprache sich nicht dennoch an einen Anderen wenden würde, könnte sie nicht dank eines anderen in der Psychoanalyse gehört werden. Für alles übrige muss man zunächst einmal anerkennen, was ist, und es deshalb eben in einen Fall einordnen; das würde aber einen langen Weg erfordern; anderenfalls wäre das ein Wirrwarr, in dem man nichts mehr versteht. Dennoch kann sich hier das, wovon ich rede, in aller Klarheit zeigen: wie der verdrängte Diskurs des Unbewußten sich ins Register des Symptoms übersetzt.
Sie werden das noch auf den Punkt genau sehen.
Sie erwähnten den Zwangsneurotiker. Schauen Sie sich einmal die Beschreibung Freuds an, die man in den Cinq psychanalyses[4] unter dem Titel „Der Rattenmann” findet.

Der Rattenmann war ein hochgradiger Zwangsneurotiker. Ein noch recht junger Mann, akademisch gebildet, der Freud in Wien aufgesucht hat, um ihm zu sagen, dass er an Zwangsvorstellungen leide: bald an einer sehr heftigen Sorge um ihm nahe stehende Personen, bald an dem Wunsch nach unbeherrschten Handlungen, wie etwa, sich die Kehle durchzuschneiden, oder er erlegt sich selbst Verbote bezüglich ziemlich unbedeutender Dinge auf ...


Der Rattenmann

– Und auf sexuellem Gebiet?
Das ist ein begrifflicher Irrtum. Zwangsneurose heißt nicht automatisch auch sexuelle Zwangsneurose, nicht einmal Zwang zu diesem oder jenem im Besonderen: Zwangsneurotisch zu sein heißt, sich in einem Automatismus, in einem Räderwerk gefangen zu finden, das immer unerbittlicher und endloser wird.
Ob er nun eine Handlung auszuführen oder eine Aufgabe zu erfüllen hat, der Zwangsneurotiker wird stets von einer ganz speziellen Angst beherrscht: Wird es ihm gelingen? Dann, wenn er seine Dinge erledigt hat, empfindet er ein quälendes Bedürfnis, sie überprüfen zu gehen, doch er traut sich nicht, aus Furcht, für verrückt gehalten zu werden, denn gleichzeitig weiß er sehr wohl, dass er sie ausge­führt hat ... Und jetzt steckt er in einem immer mächtiger werdenden Kreislauf von Überprüfungen, Schutzmaßregeln, Rechtfertigungen. Einmal in diesem inne­ren Taumel befangen, ist ihm ein Zustand von Ruhe und Zufriedenheit unmög­lich geworden.
Selbst der hochgradige Zwangsneurotiker hat indes nichts Wahnsinniges. Es gibt keinerlei Überzeugung beim Zwangsneurotiker, sondern einzig und allein diese Art völlig ambivalenter Notwendigkeit – die ihn so unglücklich, leidend und ratlos macht –, einem Drängen nachzugeben, das aus ihm selbst kommt und das er sich selbst nicht erklären kann.
Die Zwangsneurose ist weit verbreitet, und sie kann unbemerkt bleiben, wenn man nicht besonders vertraut mit den kleinen Anzeichen ist, die sie regelmäßig übersetzen. Diese Kranken behaupten sich sehr gut in ihrer sozialen Position, während ihr Leben durch das Leiden und das Fortschreiten ihrer Neurose zermürbt und verdorben wird.
Ich habe Leute gekannt, die hohe Ämter bekleideten, nicht bloß Ehren- und Direktorenämter, auch Leute, die eine so enorme und weit reichende Verantwortung trugen, wie Sie sich nur vorstellen können, und dieser durchaus gerecht wurden – die aber nichtsdestoweniger von morgens bis abends Opfer ihrer Zwangsvorstellungen waren.
So also war der „Rattenmann”: verwirrt und in seinen immer von neuem auflebenden Symptomen gefangen, was ihn schließlich – er war in der Umgebung von Wien, wo er als Reserveoffizier an größeren Manövern teilnahm — dazu veranlasst, Freud aufzusuchen und ihn um Rat zu fragen bei einer verqueren Ge­schichte von der Rückerstattung der Nachnahme für einen Zwicker, in der er sich so sehr verlor, dass er nicht mehr ein noch aus wusste.
Wenn man buchstäblich und bis in seine Zweifel hinein diesem durch das Symptom mittels der vier Personen eingerichteten Szenarium folgt, so findet man Zug für Zug und in ein großes Täuschungsmanöver verwandelt, ohne dass das Subjekt es ahnte, die Geschichten wieder, die zu jener Heirat führten, deren Frucht das Subjekt selbst ist.
— Welche Geschichten?
Eine betrügerische Spielschuld seines Vaters, der überdies — zu jener Zeit im Mi­litärdienst — wegen eines Dienstvergehens degradiert wurde, eine Geldanleihe, die ihm die Schuld zu begleichen erlaubte, die ungeklärt gebliebene Frage ihrer Rückerstattung an den Freund, der ihm zu Hilfe gekommen war, und schließlich eine Liebe, die wegen einer Heirat, die ihm wieder eine „Position” verschaffte, verraten wurde.
Seine ganze Kindheit über hatte der Rattenmann von diesen Geschichten, mal scherzhaft, mal eher verstohlen, erzählen hören. Das Packende daran ist, dass es sich nicht um ein besonderes Ereignis, etwa eine Traumatisierung handelt, die das Verdrängte hätte wiederkehren lassen; vielmehr geht es um die dramatische Konstellation, die seine Geburt bestimmte, also um die Prähistorie — wenn man so sagen kann — seiner Person, die aus einer legendären Vergangenheit hervorgetreten ist. Diese Vorgeschichte erscheint durch die Vermittlung von Symptomen wieder, die sie in einer unkenntlichen Form transportiert haben, um sich schließlich in einem inszenierten gesetzten Mythos zu verknäulen, dessen Figur das Subjekt reproduziert, ohne davon die leiseste Ahnung zu haben.
Denn sie ist dort übersetzt, so wie eine Sprache oder eine Schrift in eine andere Sprache oder in andere Zeichen übersetzt werden kann; sie ist dort neu geschrieben, ohne dass ihre Beziehungen verändert wären; oder auch wie in der Geometrie eine räumliche Figur auf die Fläche projiziert wird — was natürlich nicht heißen soll, dass sich jede Figur in irgend etwas Beliebiges verwandelt.
— Und wenn diese Geschichte einmal aufgedeckt ist?
Passen Sie gut auf: Ich habe nicht gesagt, dass die Kur der Neurose schon abge­schlossen sei, wenn man dies nur sieht.
Sie können mir glauben, dass es in der Fallgeschichte des „Rattenmannes” noch anderes gibt, was ich hier nicht entfalten kann.
Wenn allein eine Vorgeschichte am Ursprung eines Bewusstseins genügen würde, wäre alle Welt neurotisch. Es hängt mit der Art und Weise zusammen, in der das Subjekt die Dinge nimmt, sie zulässt oder sie verdrängt. Und warum ver­drängen manche Leute gewisse Dinge? ...
Machen Sie sich halt die Mühe und lesen Sie den „Rattenmann” — mit Hilfe dieses Schlüssels, der ihn Stück für Stück durchdringt: der Übersetzung in eine andere figurative und vom Subjekt völlig unbemerkte Sprache von etwas, das sich nur in Termen des Diskurses versteht.


Mehr und besser wissen

— Es kommt vor, dass die verdrängte Wahrheit sich, wie Sie es nennen, als ein Diskurs mit verheerender Wirkung artikuliert.
Nur, wenn ein Kranker zu Ihnen kommt, so ist das doch niemand, der auf der Suche nach seiner Wahrheit ist. Es ist doch jemand, der entsetzlich leidet und der geholfen bekommen will. Soweit ich mich noch an die Geschichte des „Rattenmannes” erinnere, gab es da doch auch ein Rattenphantasma ...
Anders gesagt: „Während Sie sich um die Wahrheit kümmern, gibt es einen Men­schen, der leidet ...”
Trotzdem, bevor man sich eines Instruments bedient, muss man wissen, was es ist und wie es beschaffen ist! Die Psychoanalyse ist ein schrecklich wirkungs­volles Instrument; und da es noch dazu eines von hohem Ansehen ist, kann man sie für Dinge benutzen, zu denen sie keineswegs geschaffen ist, und dadurch übri­gens wird man sie mit Sicherheit ruinieren.
Man muss also vom Wesentlichen ausgehen: Was ist das für eine Technik, worauf lässt sie sich anwenden, welcher Art sind ihre Wirkungen — die, die sie schlicht und einfach durch ihre Anwendung erzielt?
Natürlich, die Phänomene, um die es in der Analyse geht, und auf dem eigent­lichen Niveau der Instinkte, sind Wirkungen eines sprachlichen Registers: die ge­sprochene Anerkennung von Hauptelementen der Geschichte des Subjekts — einer Geschichte, die abgeschnitten und unterbrochen worden, die in den ,Unterbau` [dessous] des Diskurses gefallen ist.
Was die Wirkungen angeht, die man als der Analyse zugehörig definieren muss, die analytischen Effekte — so wie man von mechanischen oder elektrischen Effekten spricht —, sie gehören zur Ordnung dieser Wiederkehr des verdrängten Diskurses.
Und ich kann Ihnen sagen, dass von dem Augenblick an, in dem Sie das Sub­jekt auf die Couch gelegt und ihm die analytische Regel ganz summarisch erklärt haben, es bereits in die Dimension der Suche nach seiner Wahrheit eingeführt ist.
Ja, allein aus der Tatsache, dass es sprechen soll, so wie es sich veranlasst findet, es zu tun, vor einem anderen, vor dem Schweigen eines anderen — einem Schweigen, das weder aus Billigung noch aus Missbilligung, sondern allein aus Aufmerksamkeit besteht –, empfindet es dies schon als eine Erwartung, und diese Erwartung ist die der Wahrheit.
Zugleich fühlt es sich darauf durch das Vorurteil gestoßen, von dem wir vorhin gesprochen haben: Zu glauben, dass der andere – der Experte, der Analytiker – über einen das weiß, was man selbst nicht weiß, verstärkt die Gegenwart der Wahrheit; sie ist in implizitem Zustand da.
Der Kranke leidet, aber er ist sich bewusst, dass der Weg, den es schließlich einzuschlagen gilt, um sein Leiden zu überwinden und zu lindern, von der Ordnung der Wahrheit ist: mehr davon und besser darum zu wissen.
Also wäre der Mensch ein sprachliches Wesen? Das wäre dann die neue Vorstellung vom Menschen, die man Freud verdankt: der Mensch als einer, der spricht?
Macht die Sprache das Wesen des Menschen aus? Diese Frage finde ich keineswegs uninteressant, und ich finde es auch nicht schlecht, dass die Leute, die sich für das, was ich sage, interessieren, außerdem auch hieran interessiert sind; aber das ist eine andere Ordnung, oder wie ich oft sage: das ist das Zimmer nebenan ...
Ich frage nicht, „wer spricht”, ich versuche, die Fragen anders zu stellen, auf eine noch besser zu formulierende Weise frage ich mich, „woher es spricht”. In anderen Worten, wenn ich versucht habe, etwas auszuarbeiten, dann nicht eine Metaphysik, sondern eine Theorie der Intersubjektivität. Seit Freud ist das Zentrum des Menschen nicht mehr da, wo man es vermutete; darauf muss neu aufgebaut werden.
Wenn es das Sprechen ist, was wichtig ist, die eigene Wahrheit über die Rede und das Geständnis zu suchen, ersetzt dann nicht die Analyse in gewisser Weise die Beichte?
Ich bin nicht befugt, zu Ihnen über religiöse Dinge zu sprechen, aber ich habe mir sagen lassen, dass die Beichte ein Sakrament ist und dass sie keineswegs dazu geschaffen ist, irgendeine Art von Mitteilungsbedürfnis zu befriedigen ... Die Antwort des Priesters, selbst wenn sie tröstet oder ermutigt, ja sogar wenn sie befiehlt, gibt ja nicht vor, von sich aus Absolution zu bewirken.
Vom Standpunkt des Dogmas aus haben Sie zweifellos Recht. Nur dass sich die Beichte – und das seit einer Zeit, die vielleicht nicht die gesamte christliche Epoche umfasst – mit dem verbindet, was man die Gewissensführung nennt.
Treffen wir hier nicht auf das Gebiet der Psychoanalyse? Handlungen und Ge­danken gestehen zu lassen, einen Geist zu führen, der seine Wahrheit sucht?
Die Gewissensführung ist auch von Geistlichen sehr unterschiedlich beurteilt worden; man hat darin verschiedentlich sogar die Quelle aller möglichen Arten von missbräuchlichen Praktiken sehen können. Mit anderen Worten, es ist Sache der Kirchenleute, wie sie selbst sie einschätzen und welche Bedeutung sie ihr beimessen.
Mir scheint aber, dass keine Gewissensführung sich über eine Technik aufzuregen braucht, die die Aufdeckung der Wahrheit zum Ziel hat. Ich habe schon Kirchenleute, die dieses Namens würdig waren, in jenen äußerst heiklen Angelegen­heiten Partei ergreifen gesehen, bei denen das auf dem Spiel stand, was man die Familienehre nennt, und ich habe sie immer entscheiden sehen, dass die Wahrheit unter den Scheffel zu stellen als solches schon ein Akt von verheerenden Konsequenzen sei.
Und zudem werden Ihnen alle Gewissensführer sagen, dass Zwangsneurotiker und Skrupulösen die Plage ihrer Existenz sind; sie wissen buchstäblich nicht, an welchem Ende sie sie fassen sollen: Je mehr sie sie trösten, desto mehr kommt es wieder hoch, je mehr vernünftige Gründe sie ihnen geben, desto öfter kommen die Leute wieder ihnen absurde Fragen stellen ...
Doch ist die analytische Wahrheit nichts derart Geheimnisvolles oder Mysteriöses, dass man nicht auch bei für die Gewissensführung wirklich begabten Personen spontan die Erkenntnis dessen, was sie ist, auftauchen sehen kann. Ich habe unter Kirchenleuten welche kennen gelernt, die begriffen hatten, dass ein Beichtkind, das Ihnen mit seinen Zwangsvorstellungen über Unkeuschheit auf die Nerven fiel, den plötzlichen Wechsel auf eine andere Ebene brauchte: Verhielt es sich rechtlich einwandfrei gegenüber seinen Dienstmädchen oder seinen Kindern? Und über diese schroffe Ermahnung erzielten sie außerordentlich überraschende Ergebnisse.
Meiner Meinung nach können die Gewissensführer der Psychoanalyse nichts vorwerfen; viel eher können sie von ihr Einsichten gewinnen, die ihnen gute Dienste leisten ...


Beunruhigende Verkehrung

— Das mag sein, aber wird die Psychoanalyse hier denn richtig gesehen? In kirchlichen Kreisen sieht man in ihr eher ein Teufelswerk.
Ich glaube, dass die Zeiten sich geändert haben. Zweifellos ist die Psychoanalyse, nachdem Freud sie erfunden hatte, lange Zeit eine skandalöse und subversive Wis­senschaft geblieben. Es ging nicht darum, ob man an sie glauben sollte oder nicht, man widersetzte sich ihr unter dem Vorwand, dass die Psychoanalysierten hemmungslos würden und sich ihren Begehrlichkeiten oder was immer hingäben ...
Heute aber ist die Psychoanalyse — ob nun als Wissenschaft anerkannt oder nicht — in unsere Lebensgewohnheiten eingefügt, und die Positionen haben sich umgekehrt: Gerade dann, wenn einer sich nicht normal verhält, wenn er sich in einer als „skandalös” betrachteten Weise aufführt, dann redet man davon, ihn zum Psychoanalytiker zu schicken!
All das zeigt etwas, was ich nicht mit dem allzu technischen Begriff „Widerstand gegen die Analyse”, sondern eher als „massive Verweigerung” bezeichnen würde.
Die Furcht, seine Originalität zu verlieren oder aufs allgemeine Niveau redu­ziert zu werden, kommt nicht weniger häufig vor. Man muss sagen, dass um den Begriff der „Anpassung” in letzter Zeit eine Art Naturdoktrin entstanden ist, was Verwirrung und in der Folge Unruhe ausgelöst hat.
Man hat geschrieben, dass die Analyse darauf abziele, das Subjekt anzupassen — nicht unbedingt an die äußere Umgebung, aber, sagen wir einmal: an sein Leben oder an seine tatsächliche Bedürfnisse; das bedeutet nichts anderes, als dass die Bestätigung einer Analyse darin bestände, zu einem perfekten Vater, einem vorbild­lichen Gatten, einem idealen Staatsbürger, letztlich also zu jemandem geworden zu sein, der über nichts mehr diskutiert.
Das ist völlig falsch, ebenso falsch wie das erstere Vorurteil, in der Psychoanalyse ein Mittel zu sehen, sich von jeglichem Zwang zu befreien.
— Denken Sie nicht, dass das, was die Leute über alle Maßen fürchten und was sie sich der Psychoanalyse widersetzen lässt, bevor sie überhaupt wissen, ob sie an sie als eine Wissenschaft glauben oder nicht, die Vorstellung ist zu riskieren, dass sie eines Teils ihrer selbst enteignet, dass sie verändert werden?
Diese Beunruhigung ist völlig berechtigt, auf dem Niveau, wo sie auftritt. Zu sa­gen, dass es nach einer Analyse keine Veränderung der Persönlichkeit gäbe, wäre wahrlich komisch. Es wäre schwierig, zugleich zu behaupten, dass man durch eine Analyse Ergebnisse erzielen kann und dass man es nicht kann, das heißt dass die Persönlichkeit immer unangetastet bleiben werde. Allerdings müsste der Begriff der Persönlichkeit geklärt, oder besser: neu interpretiert werden.


Wiedereinsetzung des Subjekts

— Im Grunde besteht der Unterschied zwischen der Psychoanalyse und den ver­schiedenen psychologischen Techniken darin, dass sie sich nicht darauf beschränkt, zu lenken und mehr oder weniger blind einzugreifen, sondern sie heilt ...
Man heilt, was geheilt werden kann. Wir werden Daltonismus[5] oder Schwachsinnigkeit nicht heilen, auch wenn man letzten Endes durchaus sagen kann, dass Daltonismus und Schwachsinn etwas mit dem „Psychischen” zu tun haben.
Sie kennen die Freudsche Formel „Wo Es war, soll Ich werden”? Das Subjekt soll sich an seinem Platz wieder einsetzen, jenem Platz, wo es nicht mehr war und wo es ersetzt war durch diese anonyme Rede, die man das Es nennt.
Muss man – aus Freudscher Sicht – daran denken, jede Menge von Leuten zu behandeln, die nicht als krank gelten? Anders gefragt: hätte man ein Interesse, die ganze Welt zu psychoanalysieren?
Ein Unbewußten zu haben, ist nicht das alleinige Privileg von Neurotikern. Es gibt Leute, die nicht manifest vom übermäßigen Gewicht eines parasitären Leidens niedergedrückt sind, die die Gegenwart des anderen Subjekts im Innern ihrer selbst nicht allzu überlastet und die sich mit ihm sogar ziemlich gut arrangiert haben – und die trotzdem nichts zu verlieren hätten, wenn sie mit ihm Bekanntschaft machten.
Denn darin, psychoanalysiert zu sein, handelt es sich im Grunde um nichts anderes, als seine Geschichte zu kennen.
Stimmt das auch für schöpferische Menschen?
Es ist eine interessante Frage, ob es für sie von Interesse ist, rasch voranzukommen oder diese Rede, die von außen an sie gerichtet ist (es ist letztlich ein und dieselbe, die das Subjekt in der Neurose oder in der schöpferischen Inspiration in Beschlag nimmt), mit einem gewissen Schleier zu verhüllen.
Ist es von Interesse, über die Analyse sehr schnell zur Wahrheit der Geschichte des Subjekts vorzudringen, oder lieber wie bei Goethe ein Werk entstehen zu lassen, das nichts anderes ist als eine ungeheure Psychoanalyse?
Denn bei Goethe ist es offenkundig: Sein ganzes Werk ist die Offenbarung der Rede des anderen Subjekts. Er hat die Sache so weit getrieben, wie man sie nur treiben kann, wenn man ein genialer Mensch ist.
Hätte er dasselbe Werk geschrieben, wenn man ihn psychoanalysiert hätte? Meiner Meinung nach wäre das Werk sicherlich anders ausgefallen, aber ich glaube nicht, dass man dabei verloren hätte.
Und für all jene Menschen, die nicht schöpferisch sind, aber große Verantwor­tung tragen, die Beziehungen zur Regierungsmacht haben – glauben Sie, dass man für sie die Psychoanalyse obligatorisch machen sollte?
Man sollte in der Tat keinen Augenblick daran zweifeln müssen, dass ein Mann, der Präsident des Ministerrats ist, sich sicherlich in normalem Alter, das heißt jung, hat analysieren lassen ... Aber die Jugend dauert manchmal recht lange.


Ein Alarmschrei

Vorsicht! Was könnte man Guy Mollet[6] entgegenhalten, wenn er analysiert worden wäre? Wenn er es sich zunutze machen könnte, immunisiert zu sein, während seine Gegner es nicht sind?
Ich werde nicht dazu Stellung nehmen, ob Monsieur Guy Mollet die Politik, die er macht, auch gemacht hätte, wenn er analysiert wäre, oder nicht! Ich will nicht gesagt haben, die Analyse aller sei für mich die Quelle zur Lösung aller Widersprüche, oder es gäbe keine Kriege und keine Klassenkämpfe mehr, wenn man alle menschlichen Wesen analysieren würde; ich sage ausdrücklich das Gegenteil. Denkbar wäre höchstens, dass die Dramen vielleicht weniger konfus wären.
Sehen Sie, der Irrtum ist genau das, worauf ich Sie vorhin hingewiesen habe: sich eines Instruments bedienen zu wollen, bevor man weiß, wie es beschaffen ist. Nun neigt man bei den Aktivitäten, die zur Zeit in aller Welt unter dem Namen „Psychoanalyse” zu erleben sind, immer mehr dazu, den allerersten Rang, zu dem Freud den Funken gelegt hat, wieder zu verdecken, zu verkennen und zu verschleiern.
Die Bemühungen der großen Masse der psychoanalytischen Schule galten dem, was ich ein Unterfangen der Reduktion nenne: das Anstößigste der Freudschen Theorie unter den Teppich zu kehren. Von Jahr zu Jahr sieht man diesen Verfall zunehmen, zuweilen — wie in den Vereinigten Staaten — bis hin zu Formulierun­gen, die im krassen Gegensatz zum Freudschen Geist stehen.
Dass die Psychoanalyse umstritten ist, gibt dem Analytiker noch lange keinen Grund zu dem Versuch, seine Beobachtungen akzeptierbarer zu machen, indem er sie mit kunterbunten Farben und mit — mehr oder weniger berechtigt aus den wis­senschaftlichen Nachbardisziplinen erborgten — Analogien auffrisiert.
Was Sie sagen, ist für mögliche Analysanten ziemlich entmutigend ...
Wenn ich Sie beunruhige, umso besser. Aus Sicht der Öffentlichkeit halte ich es für äußerst wünschenswert, dass ein Alarmschrei ergeht und dass er auf wissenschaftlichem Gebiet eine sehr präzise Bedeutung hat: als Appell, als vordringliche Forderung an die Ausbildung des Analytikers.


Ein ausgebildeter Analytiker

Ist das nicht schon jetzt eine sehr lange und strenge Ausbildung?
So wie es um die psychoanalytische Ausbildung heute bestellt ist – Medizinstudium und dann eine Psychoanalyse, eine so genannte Lehranalyse durch einen qua­lifizierten Analytiker –, fehlt etwas Wesentliches, ohne das, ich jedenfalls bestrei­te das, man kein wirklich ausgebildeter Psychoanalytiker sein kann: der Erwerb von Kenntnissen in sprachwissenschaftlichen und historischen Disziplinen, in Religionsgeschichte usw. Um seine Gedanken zur Ausbildung zu umreißen, erweckte Freud selbst jenen alten Begriff wieder zum Leben, den ich gerne aufgreife: den der „universitas litterarum”.
Das Medizinstudium reicht doch offenkundig nicht aus, um zu verstehen, was der Analysierte sagt, das heißt etwa um in seiner Rede die Tragweite der Symbole und die Gegenwart von Mythen zu erkennen oder schlicht den Sinn des Gesagten zu erfassen – so wie man den Sinn eines Textes versteht oder auch nicht.
Immerhin ist heute ein ernsthaftes Studium der Texte und der Freudschen Lehre möglich geworden durch das Asyl, das Professor Jean Delay[7] ihm in der Clinique des maladies mentales et de l'encephale[8] an der Universität gewährt.
– Denken Sie, dass die Psychoanalyse, so wie sie von Freud eingeführt wurde, in den Händen von inkompetenten Personen Gefahr läuft unterzugehen?
Im Augenblick ist die Psychoanalyse mit Sicherheit auf dem Wege, in eine immer konfusere Mythologie umzuschlagen. Man kann dafür einige Anzeichen benennen: die Streichung des Ödipus-Komplexes, die Betonung der prä-ödipalen Mechanismen und der Frustration, eine Substituierung des Begriffs der Angst durch den der Furcht. Das heißt nicht, dass der Freudismus, der erste Freudsche Funke, nicht weiterhin überall seinen Weg geht. Untrügliche Belege dafür sieht man in allen Wissenschaften vom Menschen.
Ich denke dabei insbesondere an das, was mir vor kurzem mein Freund Claude Levi-Strauss gesagt hat über die endlich durch die Ethnologen dem Ödipus-Komplex erwiesene Würdigung als einer tief greifenden mythischen Schöpfung unserer Epoche.
Es hat auch etwas ziemlich Beeindruckendes, ja ganz und gar Packendes, dass es Sigmund Freud, einem einzelnen Menschen, gelungen ist, eine bestimmte Anzahl von Effekten freizulegen, die niemals zuvor isoliert worden waren, und sie dann in ein Koordinatennetz einzufügen, wodurch zugleich eine Wissenschaft und das Feld ihrer Anwendung eingeführt wurde.
Aber gegenüber diesem genialen Werk, das das Freudsche darstellt und das sein Jahrhundert wie eine Feuerspur durchzieht, befindet sich die Aufarbeitung arg im Verzug. Das sage ich aus vollster Überzeugung. Und man wird diesen Vorsprung erst wieder aufholen, wenn es genug ausgebildete Leute gibt, die tun, was jede wissenschaftliche oder technische Arbeit erfordert, überhaupt jede Arbeit, in der das Genie eine Furche bahnen kann, wo es aber eines Heers von Arbeitern bedarf, um die Ernte einzufahren.

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Abgedruckt in: Fragmente – Schriftenreihe zur Psychoanalyse Nr. 39/40. Dezember 1992 S.291-308.
[1] [„Clefs pour la psychanalyse. Entretien avec Jacques Lacan", zuerst erschienen in L'Express vom 31. Mai 1957; wieder abgedruckt in L'Âne: Le magazine freudien, n° 48, Paris, Okt.-Dez. 1991, S. 28-33. Alle (in eckige Klammern gesetzten) Anmerkungen und Ergänzungen stammen von den Übersetzern.]

[2] [Jean-François Champollion (1790-1892), französischer Ägyptologe, entzifferte um 1822-24 die Hieroglyphenschrift.]

[3] [Der Ausdruck „Anastasie” wird in Frankreich scherzhaft für die Zensur in der literarischen und künstlerischen Welt gebraucht.]

[4] [Eine französische Ausgabe Freudscher Fallgeschichten, Paris: Presses Universitaires de France 1954, u. ö.; „L'homme aux rats” dort S. 325-420.]

[5] [Eine angeborene Farbenblindheit (Rot-Grün-Blindheit); nach ihrem Entdecker John Dalton (1766-1844).]

[6] [Guy Mollet (1905-1975), sozialistischer Politiker, Generalsekretär der französischen Sektion der Internationale (SFIO), 1956-57, zur Zeit des Interviews, Ministerratspräsident.]
[7] [Jean Delay (1907-1987), französischer Psychiater und Schriftsteller, der sich der Trennung der Medizin in eine somatische und eine psychische Abteilung, zugunsten einer eigenen holisti­schen Konzeption des Organismus widersetzte.]
[8] [Klinik für Geistes- und Hirnkrankheiten
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