Vier Minuten
Deutschland, 2006, Regie Chris Kraus, 112 Minuten
Autor: M. Behzadi
Der
mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnete Film, an dessen
Realisierung der Autor und Dozent Kraus 8 Jahre lang akribisch
arbeitete, hebt eindringlich und auf meisterhafte Art gewisse
Reiz- und Tabuthemen ins Bewusstsein, die tieferen Gefühlsschichten
berühren. Themen wie Gefangenschaft, Ausweglosigkeit, Opfer- und
Tätermentalität, Schuldbewusstsein sowie Mehrfachtraumatisierungen, die
ein jeder mit enormer Anstrengung aus seiner Bewusstseinswelt
fernzuhalten versucht. Solche Grenz- und Konflikterfahrungen sind
bewusstseinsbildend und persönlichkeitsprägend. Psychologische
Errungenschaften weisen nachdrücklich darauf hin, dass das Verdrängte weiterhin unterschwellig unser
gesamtes Wahrnehmungsfeld beeinflusst. Psychische Abwehrreaktionen
können
dazu führen, dass jeder Handlung in sich eine gehörige Portion
Irrationalismus innewohnt. Herausragende Persönlichkeiten lehren uns,
dass auch leidvolle Erlebnisse unsere geistige Tiefe und Unabhängigkeit
fördern können, wenn man sich intensiv mit ihnen auseinandersetzt und
sie in seine Persönlichkeitsstruktur integriert. Eine
junge des Mordes angeklagte und zur Selbstzerstörung neigende Frau
fristet ihr tristes Dasein im Gefängnis. Sie leidet unter innerer
Zerrissenheit und Gefühlsleere. Eine tragfähige Beziehung zu ihr
aufzubauen, scheint völlig ausgeschlossen zu sein. Nichtsdestotrotz
versucht eine introvertierte Klavierspielerin einen Zugang zu ihr zu
finden. Ein allzu schwieriges Unterfangen. Zum Dialog hin
orientierte Menschen gelangen schneller zum
Bewusstsein ihrer selbst als die in sich gekehrten Nachdenklichen. Ohne
rechte Fremd- und Selbsterkenntnis fühlen wir uns wie verloren in einem
Labyrinth aus nicht verstehbaren zusammenhangslosen Einzelereignissen. Komplexe
zwischenmenschliche Konfliktkonstellationen sind grundsätzlich nicht
lösbar, dennoch verfügen wir über etliche Regulierungsmechanismen und
Freiräume, um mit ihnen zu leben. Es gilt ihr Potenzial
auszuschöpfen. Die beiden Hauptdarstellerinnen scheitern immer wieder in
ihren anfänglichen Versuchen. Es scheint, als ob sie ins Scheitern
verliebt sind und nicht ins Gelingen. Abgrundtiefer Selbsthass,
Strafbedürfnis, Persönlichkeitsspaltung sind als argumentative Basis und
mögliche Erklärung bei weitem nicht restlos überzeugend, besonders wenn man Opfer und Täter zugleich ist. Das Leben lehrt uns: Wenn man klug scheitert, gewinnt man vertiefte
Einsichten über die eng verflochtenen Mechanismen, die unser Leben beherrschen. Das
Wunderkind ist musikalisch hochbegabt, sodass die ältere Dame es sich
zum Ziel setzt, diese naturgegebene und brachliegende Gabe in eine
heilwirkende Aufgabe zu verwandeln. Sie möchte ihre eigene gescheiterte
Karriere in ihr zur Vollendung bringen.
Solange
man an seine Talente glaubt und sie zur Entfaltung bringt, wird die
Sinnhaftigkeit des Lebens nicht ernsthaft in Frage gestellt.
Hingebungsvoll und mit unermüdlichem Einsatz der Klavierspielerin
erfährt sie einige kurzlebige Lichtmomente in ihrem entbehrungsreichen
Dasein, die sich bedauerlicherweise erneut verflüchtigen.
Sie begreift nach und nach, dass die kuschelpädagogischen und
lehrbuchmäßigen Ratschläge bei ihr nichts ausrichten und keine
Tiefendimension entfalten. Naive Hoffnung kann durchaus fatale
Auswirkungen zur Folge haben, wenn sie nicht durch fundiertes Wissen
ersetzt wird.
Schrittweise
erfährt sie mehr über den inneren Werdegang der jungen Mörderin und
nimmt mitleidsvoll Anteil an ihrem unentrinnbaren Schicksal. Es findet eine beiderseitige Öffnung statt, die sich zum Teil heilsam auswirkt.
Hinter
jeder Geschichte, die man erzählt bleibt eine andere Geschichte
unerzählt, weil man keine Worte findet, um ihr Ausdruck zu verleihen.
Jede Geschichte ist unvollendet und setzt sich in uns fort. Wir fügen
selbst etwas hinzu, interpretieren etwas heraus, um sie ganz zu
verstehen. Geschichten können uns innerlich aufbauen oder zerstörerische
Wirkungen auf uns ausüben. Es hängt alles davon ab, wie deren narrative
Struktur aufgebaut ist und für welche Geschichten wir uns entscheiden.
Menschliche Wesen dürfen selbstverständlich niemals nur auf Geschichten
reduziert werden.
Dieser überaus sehenswerte Film läuft am 31. Mai im Frankfurter Filmmuseum.