Hans-Peter
Jäck:
«Beschneidung»
−
Unterwegs
zu einer Debatte
Beschneidung
in Ägypten, um 2420 v.u.Z.
Im Drehbuch
von «Au revoir les enfants»/«Auf
Wiedersehen Kinder» (Gallimard
1987) schildert Louis Malle zwei kurze, aber signifikante Szenen: der
katholische Junge Julien Quentin nimmt während des Unterrichts, in dem die
Klasse ein Gedicht von Charles Péguy interpretieren soll, den Zirkel und sticht
sich mehrere Male in den Handrücken. Sein Nachbar Boulanger kommentiert: «T’es fou.»/«Du bist ja irre.» Worauf
Julien antwortet: «Ça ne fait même pas
mal.»/«Das tut doch nicht einmal weh.» Später, nachdem Julien mit dem Jean
Kippelstein-Bonnet, dem jüdischen Jungen, den Pater Jean im Internat vor den
Deutschen versteckt, Freudschaft geschlossen hat und nach einer gemeinsamen
Irrwanderung im nächtlichen Wald im Krankenzimmer liegen, fängt Jean eine
Fliege, nimmt sie zwischen die Finger und reißt ihr einen Flügel aus. Julien
kommentiert: «T’es dégueulasse.»/«Du bist
eklig.» Die Antwort von Jean: «Ça lui
fait pas mal.»/«Das tut ihr doch gar nicht weh.» ‒ Die beiden Szenen, die
auch im Film aufgenommen werden (in der deutschen Fassung wird allerdings die
Antwort von Jean entstellt: Jean antwortet auf Deutsch: „Die ist tot.“), fungieren als Urszene und Wiederholung und bringen
‒ von Louis Malle scharf beobachtet und durchaus autobiographisch ‒ die
religiöse Differenz beider Jungen zum Ausdruck: Der im Geiste des Katholizismus
erzogene Julien wiederholt in seinem ‒ wenn auch durchaus pubertären ‒ Spiel
eine Grundtendenz des Christentums: das Selbstopfer in der symbolische Form
eines masochistischen Akts, während der jüdische Junge ein für seine Religion
und seine Männlichkeit zentrales Motiv zum Ausdruck bringt: die Beschneidung
spiegelt sich im Akt am anderen wieder und der aggressive Akt wird im
Selbsttrost abgeschwächt, ja entschuldigt. Wie alle Szenen sind auch diese
beiden Szenen mehrdeutig und können, gerade in Hinsicht auf Jean Kippelsteins
späterem Schicksal, noch anders gedeutet werden: als gespiegelte Verzweiflung
über die vorweggenommene Ausweglosigkeit jüdische Existenz unter
nationalsozialistischer Herrschaft. Dennoch lassen sich die Szenen auch aus der
Perspektive des Unterschieds in der Behandlung des Körpers auf dem Hintergrund
traumatischer Erfahrungen im Mantel des Religiösen lesen: Die Religion ist zwar
eine „Illusion“ (Sigmund Freud), doch ihre Wirkmächtigkeit durchdringt tief die
Wirklichkeiten des Lebens und trennt ganze Welten voneinander. Was beiden
Menschenkindern allerdings in gleichem Maße zukommt, ist die «Marke», die am
Körper hinterlassen wird und das Leben bestimmt.
***
Michelangelo: David (Ausschnitt)
Der Schnitt,
das (Be-)Schneiden teilt das Geschlecht in zwei Teile ‒ aber sind es
tatsächlich nur zwei? Beschneidungsreligionen berufen sich nicht ohne Grund auf
die sexuelle Differenz: Exzision wie Zirkumzision können verstanden werden als
kulturelle (Re-)Produktion des biblischen Akts der (monotheistischen) Schöpfungsgeschichte:
„Und Gott schuf den Menschen ihm zum
Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.“
(Genesis, Mose I,27).
Was aber macht
uns so sicher, dass wir den ‒ gesprochenen und geschriebenen ‒ gottväterlichen
Schöpfungsakt ‒ zumindest für den Mann ‒ wiederholen zu müssen glauben?
Der Zeitpunkt
der Beschneidung ‒ das hatte schon Arnold van Gennep in seiner nach wie vor
bahnbrechenden Arbeit «Rites de passages»
(engl. 1960) festgestellt ‒ hat im Allgemeinen wenig mit dem tatsächlichen
Eintritt in die Pubertät, d.h. also mit der sexuellen Reife im engeren Sinne zu
tun; durchweg alle kulturellen Initiationsriten haben allein zum Ziel, Marken
bzw. Markierungen der Zugehörigkeit (zu einer sozialen Gruppe, einem Volk, einer
Religion) weiterzugeben und das Individuum (s)einer Gemeinschaft zu
verpflichten; die Verpflichtung ist selbstredend nicht einseitig ‒ sie gilt
genauso für die Gruppe, die das neue, symbolisch gezeichnete Mitglied aufnimmt.
Soziale Marken sind also Verpflichtungen auf Gegenseitigkeit, und sie werden
über die Generationsgrenzen hinweg weitertradiert (von Menschen, denen sie
selbst zugefügt worden waren).
Tut die
Beschneidung noch denselben Dienst wie zu ihren Ursprüngen? Muss sie es auch
heute noch tun? ‒ Die Diskussion darüber ist zumindest schon lange ‒ und nicht
erst jetzt ‒ eröffnet und kann auch gar nicht mehr aufgehalten werden. (Und es
ist nicht zufällig, dass sich, oberflächlich gesehen, die Kritik an der
Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises an die Gender-Forscherin Judith Butler im September 2012 ausschließlich an
ein paar politisch mehrdeutigen Aussagen der Preisträgerin festmacht, während
deren gesamte Forschungsleistung doch gerade in der Kritik der herkömmlichen Geschlechterdifferenz besteht! ‒ Wie immer
in solchen Fällen, wird der Sack geschlagen, wenn man den Esel meint. Hier
macht es sich, wie man vermuten darf, sogar die Preisträgerin selbst schwer,
indem sie die die unterschwellig transportierte religionspolitische Rancüne ‒
oder, adornitisch gesprochen: „Idiosynkrasie“ ‒ vornehm zu übersehen scheint.)
***
«Iam enim de haec causa
duo concilia missa sunt
ad sedem apostolica.
Inde etiam rescripta venerunt:
causa finita est;
utinam aliquando finiatur error.»
Augustinus, Sermo 131, Nr.10
Das seit
einiger Zeit zu konstatierende „Revival“ der Religionen ‒ aller Religionen, die
sog. monotheistischen aber insbesondere ‒ scheint Freuds Thesen von der
«Zukunft einer Illusion» zu widersprechen. Sicher ist aber, dass mit der
Aufkunft der Aufklärung der Religion starke Konkurrenten erwachsen sind: Staat
und Recht (neben dem von Walter Benjamin konstatierten „Kapitalismus als Kultreligion“); beide Institutionen sorgen dafür,
dass bis dato als unbenommen geltende religiöse Regeln einer Überprüfung
unterzogen werden (müssen), vor allem auch um den modernen Staat als einen
Rechtsraum anzuerkennen, in dem verschieden-ste
Glaubensrichtungen (einschließlich der Atheismen oder Agnostizismen) friedlich
und gleichberechtigt in „Religionsfreiheit“
nebeneinander leben können. Staatliches und überstaatliches Recht sind selbst
zu sehen als eine „Beschneidung“ religiöser Rechtsauffassungen, was spätestens
nach dem Niedergang des absolutistischen Staates und dem Aufkommen der
Demokratie gerade auch zur Garantie der freien Ausübung der Religion zu sehen
ist. Der neuste, aber dennoch immer noch alte Streit um die sog.
Mohamed-Karikaturen zeigt die auf Ausgleich, aber auch die auf klare Begrenzung
religiöser Eingriffe auf das Leben der Menschen bedachte Aufgabe des modernen
Staats demokratischer Provenienz. Mag die „Kompromissbildung“ durch staatliches
Handeln auch immer wieder hinterfragbar erscheinen, so ist dennoch unstrittig,
dass der Schutz von Freiheiten (respektive auch von Gleichheiten) im
demokratischen Staat die vordringendste Pflicht staatlich-rechtlichen Handelns
ist. Für Europa kann der „Schnitt“ beim Dreißigjährigen Krieg 1618-48 angesetzt
werden, der die Klimax religiöser Integrismen ausmacht. Wer allerdings die
Rolle des modernen Staates selbst als Herrschaft rationalistischer und
dogmatischer Aufklärung allzu schnell abtut, der sollte sich im Hinblick auf
die bisherigen Religionsgeschichte(n) fragen, ob er die Schwelle der Aufklärung
leichthin in umgekehrter Richtung wieder überschreiten will.
„Allein die Kritik kann die Religion vor dem
bewahren, was sie immer bedroht: vor der Idolatrie. Diese Kritik ‒ und die
Blasphemie ist eine ihrer Varianten ‒ schafft Distanz zur allerletzten
Wahrheit, nennen wir sie Gott, und zu allem, was man darüber sprechen, glauben,
gestehen kann. Die kritische Vernunft in der Theologie ist der größte Beitrag
und das Wichtigste für eine laizistische Republik wie der unsrigen, und sie
lehrt uns, dass das allerhöchste religiöse Ziel niemals identisch ist mit den
Vorstellungen und Repräsentationen, die wir uns von ihm machen. Gott ist immer
ein anderer, ein anderes. Zwischen ihm und dem Gläubigen gibt es keinerlei
Unmittelbarkeit. Beide stehen in einem komplexen Netz von Vermittlungen,
Texten, Symbolen, Traditionen, Riten, die alle an den Abstand und die Arten,
diesen auszudrücken und zu besetzen erinnern; damit wollen sie die Möglichkeit
von Beziehungen aufrechterhalten.“ – Hier sprechen keine rationalistischen
Aufklärer, sondern ein christlich-protestantischer Theologe, Raphaël Picon, und
ein Islamologe, Rachid Benzine, und es ist anzunehmen, dass sie damit auch das
ansprechen, was heutzutage vorschnell und leichthin als «Dialektik der
Aufklärung» ins Handgemenge eingeführt wird. ‒ Wenn von Seiten religiöser
Kreise der Anspruch erhoben wird, die Religion müsste in ihren Grundlagen ernst
genommen werden, so gilt das umgekehrt auch für deren Sicht auf die Aufklärung.
(Und ein rascher Blick in Immanuel Kants „Die
Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793 ist hier immer
von großem Nutzen.)
Zudem scheint
bei dem Thema „Beschneidung und Religion“ in Deutschland weniger eine
„Dialektik der Aufklärung“ einzuklagen zu sein als eher eine „Dialektik des
Rassismus“: Wenn Gegner der Beschneidung, die sich auf Grund- und
Menschenrechte berufen, in der Bundesrepublik leichthin als „Antisemiten“ oder
als „islamophob“ abgestempelt werden, so lässt sich dahinter zugleich die Haltung
erkennen, dass jede Kritik an einer sog. fremden Kultur (oder Religion) sofort
als Rassismus denunziert werden kann, wir haben es hier mit der Strategie einer
Autoimmunisierung zu tun, die immer schon eine offene Diskussion auszuschließen
beabsichtigt. (Eine Haltung, die sich seit einiger Zeit bei vielen Minderheiten
zeigt. ‒ Zudem: Man überlege nur einmal hypothetisch, welche Diskussion geführt
worden wäre, wenn die Beschneidung ausschließlich und allein bei Muslimen
praktiziert worden wäre!) Das Stereotyp: „Haben Sie schon aufgehört, die
Juden/Muslime etc. zu hassen?“ ist immer dazu angetan, den Befragten im
Vornherein schon als den Schuldigen festzumachen. („Ich wasche meine Hände in
Kollektivschuld…“, antwortete Günter Kunert einmal in einem Gedicht.) Und es
ist nicht weiter verwunderlich, dass sogar oberste Richter inzwischen dem
Beispiel des Bundesverfassungsgerichts folgen und ihre richterlichen Abwägungen
mit politischen Meinungen und Statements trüffeln (vgl. Entscheidungen zur
Europa, zum Waffeneinsatz der Bundeswehr usf.): die Richter argumentieren
inzwischen auf einer Ebene, die das geschriebene Recht höchstens noch als
zarten Hinweis auf ihre Position als neue rechtssprechende deutsche
Nebenregierung verwenden ‒ der Vorwurf der „politischen Rechtsprechung“ ist
nicht mehr von der Hand zu weisen. Wie sonst ist die Einlassung eines obersten
Richters in Nordrheinwestfalen, Michael Bertram (laut Frankfurter Rundschau vom 23. Januar 2013) zu verstehen, der die
Kölner Gerichtsentscheidung, die sich im Wesentlichen nach dem geschriebenen
Recht richtet, kritisiert mit einer offenen Richterschelte, deren
regierungspolitische Ausrichtung (im Sinne von: “Berolina – statt Roma ‒
locuta, causa finita“ nach Augustinus) deutlich im Vordergrund steht: „Nachdem der Bundestag ja nun erfreulich
schnell Rechtsklarheit [?, HPJ]
geschaffen hat, bin ich gar nicht sicher, ob in dieser Sache überhaupt noch
einer höhere [?, HPJ] Instanz bemüht
werden wird. Unabhängig davon halte ich dieses Urteil [sc. des Kölner Gerichts],
nun ja, juristisch ausgesprochen mangelhaft. Es blendet wesentliche Aspekte aus
und wird den Betroffenen nicht gerecht. Ich mache das einmal an der jüdischen
Gemeinschaft fest: Auf der Basis dieses Urteils wäre jüdisches Leben in
Deutschland unmöglich ‒ eine Katastrophe vor dem Hintergrund der
NS-Vergangenheit. […] Eine juristisch gute Entscheidung muss der Komplexität
einer vorgelegten Frage Rechnung tragen. Das ist erkennbar nicht geschehen. Im
Windschatten dieser Entscheidung sind überhaupt diese schlimmen anti-jüdischen
Ressentiments sichtbar geworden.“ – Dass diese Aussage von einem
evangelischen SPD-Mitglied stammt, verwundert freilich nicht, haben sich doch
die Vertreter der Lutherischen Konfession seit den Zeiten ihres Begründers
immer unter den Rock der Staatsregierenden geflüchtet („Cuius regio, eius religio“); auch die Ausdrucksweise eines der
obersten Richter ist bedenklich („nun ja“, „ich mache das einmal an … fest“);
hier werden juristische Fragen nach dem Modell einer Talkshow nach einem Bundesligafußballspiel
abgehandelt. Der Verfall der Rechtssprache ist geradezu erschreckend. Die
Sprache des Stammtischs verwindet sich mit Anti-Stammtischgerede… Und es ist
nicht weiter überraschend, wenn man dazu erfährt, dass dieser Richter sich
damit brüstet, bei richterlichen Entscheidungen jegliche Information, die über
seinen vorgeblichen Sachverstand hinausgeht ‒ etwa öffentliche Diskussionen,
Meinungsumfragen etc. ‒ strikt zu meiden! Heribert Prantl konstatiert
anlässlich des kommenden NSU-Prozesses, in dem sich das Münchner Gericht
brüstet, es habe den öffentlichen Medien das Recht des Schnellsten zugestanden
(und damit etwa die interessierten türkischen Nachrichtenmedien ausgehebelt)
und brauche sich deshalb um die politischen Konsequenzen nicht zu kümmern:
„Unabhängigkeit ist nicht das Recht auf den Elfenbeinturm. Unabhängigkeit ist
keine Vergünstigung zur bequemen Ausübung des Berufes. Unabhängigkeit ist ein
Anrecht aller Bürger, die bei der
Durchsetzung ihrer Rechte und der Gewährleistung des inneren Friedens auf die
Richter angewiesen sind. Eine Justiz, die sich im Paragraphenturm einmauert,
ist nicht souverän und unabhängig, sondern unbeweglich.“ (SZ 6./7. April 2013,
S.13). (Hervorhebung vom Verf.) „Alle Bürger“ müsste auch jene umfassen, die ihre
Interessen noch nicht artikulieren vermögen! Ein rechtlich so versierter
Journalist wie H. Prantl ist trotz seines engagierten Plädoyers für die
Informiertheit des Gerichts sehenden Auges blind! Die berühmte „Unabhängigkeit“
des Gerichts, die gemeinhin als Binde vor den Augen der Justitia symbolisiert
wird, kippt um in „common sense“ – in
einen „Gemeinsinn“ −, der der dunklen Hälfte der Bedeutung des Adjektivs
„gemein“ zu unvorhergesehener Ehre verhilft.
***
Das Urteil des
Kölner Landgerichts im Juni 2012 über das Beschneidungsverbot an einem
muslimischen Jungen hat ‒ trotz aller Richterschelte ‒ letztlich nur das
Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nochmals in Erinnerung gerufen (wie
viele der Grund- und Menschenrechte wird auch dieses Menschenrecht immer wieder
mit dem Fingerzeig auf ‚andere‘, vorwiegend diktatorische Regime in der Welt
eingeklagt, ohne zu sehen, dass dabei die meisten Finger ‒ nach einem Diktum
des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann ‒ auf uns selbst deuten); namhafte Rechtsprofessoren haben das Urteil
bestätigt: „Es ist strafrechtlich völlig
unumstritten, dass eine Beschneidung den Straftatbestand der Körperverletzung
erfüllt.“ (Hans-Michael Heinig, Professor für Öffentliches Recht und
Staatskirchentum an der Universität Göttingen, FAZ v. 30. Juni 2012; S.5)
Der Einwand,
dass bis zu diesem Kölner Urteil die Beschneidung straffrei gewesen sei, ist
nicht zu halten, denn die Rechtslage ist eindeutig; wenn bisher kein Gericht in diesem Sinne tätig geworden ist, so ist
daraus nur zu folgern, dass das Recht bis
dato nicht durchgesetzt wurde (es gilt eben das Prinzip, dass, wo kein
Richter ist, auch keine Einklage eines Rechts ist). Dass jetzt ein neues Recht
zu schaffen ist (und im deutschen Parlament auch geschaffen wurde), das eine Ausnahmeregelung für die religiös
begründete Beschneidung an männlichen Kindern treffen soll, wurde von allen im
Berliner Bundestag versammelten Parteien ‒ mit Ausnahme der „Linken“ ‒
versprochen und durchgesetzt; dennoch aber dürfte eine solche Regelung
rechtlich in einem zu erwartenden Prüfungsverfahren des
Bundesverfassungsgerichts nicht einfach zu halten zu sein. Dass sie getroffen
werden musste, daran mag vielleicht kein Zweifel bestehen. Ebenso wenig aber
darf und kann deshalb eine Diskussion über die Beschneidung fürderhin
unterdrückt werden: die Freiheit der Meinungsäußerung ist eines der
wertvollsten Güter einer parlamentarischen Demokratie. Dieses Recht steht
freilich auch sog. Dummen oder Uninformierten zu, und sofern diese den Boden
des Grundgesetzes nicht verlassen, ist ihnen daher das Wort frei.
Der Streit
entzündet sich daran, wie garantierte Grundrechte gegeneinander abgewogen
werden (können). Ein ehemaliger Richter am BVG lehnt es ab, ein Grundrecht ‒
gleich welches ‒ a priori als vor-
oder nachrangig zu bezeichnen (Dieter Grimm); andere wollen eine Vorrangigkeit
des Rechts auf Unverletzlichkeit des Körpers sehen, wie z.B. Georg Paul Hefty,
laut FAZ: „Die Berufung der Eltern auf
ihre Religionsfreiheit ist nachrangig, denn sie schränken mit vollzogener
Beschneidung die Religionsfreiheit ihres Sohnes unwiederbringlich ein. Wäre der
Akt rechtlich erlaubt, so müsste der Staat zwischen religiös tradierten und
individuell motivierten Körperverletzungen unheilbarer Art unterscheiden. Der
Rechtsstaat muss jedoch gerecht gegenüber jedermann sein und muss daher auch
Kinder vor ihren Eltern und deren Überzeugungen in Schutz nehmen, falls die
Kinder ‒ ob Mädchen oder Jungen ‒ die Folgen nicht bis zur Volljährigkeit
auswachsen können. Das gesellschaftspolitisch höchst heikle Urteil [des
Kölner Gerichts ‒ A.d.V.] ist rechtsstaatlich unumgänglich.“ (Georg
Paul Hefty, Leitartikel FAZ vom 28. Juni 2012)
Eine Form der Beschneidung
Bemerkenswert
ist in dieser Stellungnahme die Bereitschaft, einen „anderen Schauplatz“ zu
erlauben: Religiöse und erzieherische Rechte werden immer von den Eltern oder
deren Vertreter eingeklagt; die Sicht des betroffenen Knaben ‒ des „Subjekts“
im eigentlichen und buchstäblichen Sinne ‒ wird nur indirekt und wiederum über
die Verantwortlichkeit der Eltern oder Erziehungsberechtigten eingeklagt.
Spielt hier ein deutlicher Mangel an Empathie hinein? Dienen Rituale und
Traditionen auch zu Abstumpfung von Empathie? Wird das Elternrecht einseitig
ausgelegt und die „Pflicht“, dem Kind materiell (und nicht nur ideologisch) das
Beste angedeihen lassen zu wollen, gar zugunsten eines (bürgerlichen) Besitzanspruchs über das Kind forciert?
Wem „gehört“ ein männliches Kind? Wem
gehört dessen Vorhaut? Ist nicht auch dieses „Eigentum“, wie jedes „Eigen“,
doppeldeutig? Und wenn ja: mit welchen theoretischen und praktischen
Folgerungen?
Bedenklich
immerhin stimmen zudem Äußerungen, die die öffentliche Debatte dadurch
verhindern oder in Grenzen halten wollen, dass sie Argumente der jeweiligen
Gegenseite öffentlich denunzieren: Wenn sogar eine Bundeskanzlerin sich dazu
hinreißen lässt, all jene, die sich auf Recht und Gesetz, d.h. auf Grund- und
Menschenrechte und auf die UNO-Kinderrechtskonvention, berufen, öffentlich als
„Komiker“ zu bezeichnen, so ist das
wohl das schlechteste Beispiel einer demokratischen Politikerin. ‒ Sicher: die
Debatte hat den allergrößten Teil der Beschneidungsgegner wie auch der
Beschneidungsbefürworter gleichsam ‚unvorbereitet‘ getroffen; von daher sind
viele der zu anfangs geäußerten ‚Argumente‘ zu verstehen: Zorn und Wut und
Empörung als erste Affektäußerung sind deshalb zu erwarten gewesen; es gab ‒
von beiden Seiten ‒ Argumente im ‚Handgemenge‘, die eher als Entgleisungen nach
einem anfänglichen ‚Schock‘ zu begreifen sind, und das gilt vor allem für die
Debatte in den Medien, etwa bei den sog. «talk-shows», bei denen Befürworter
und Gegner wahrlich die schlechtesten Beispiele einer offenen Diskussion
geliefert haben.
Der „shitstorm“ des Beginns ist (wenn auch
noch nicht in jeder Zeitung ‒ siehe die Beschneidungsfundamentalisten aus der Frankfurter Rundschau) vorbei; es könnte
jetzt darum gehen, gangbare Wege der offenen und freien Diskussion zu suchen
und zu beschreiten.
Dennoch
erweist sich die bisherige Entrüstung als Zeichen einer Zeit, die offenbar
keine einfachen Lösungen mehr zu bieten vermag. Die Relativierung von
Grundrechten („das Recht auf Religionsfreiheit gilt nicht absolut“ ‒ „das
Elternrecht gilt nicht absolut“ ‒ „das Recht auf Unverletzlichkeit des Körpers
gilt nicht absolut“…) führt sicherlich nicht aus dem Dilemma: wenn selbst die
Menschen- und Bürgerrechte, ja sogar das Recht auf Menschenwürde keine regulative
Gültigkeit mehr besitzen sollen, dann dürfte der Willkür Tür und Tor geöffnet
sein (gefährlich ist diese Art absolut relativistischer Haltung seit Langem
schon in der internationalen Politik, vor allem der sog.
westlich-abendländischen Länder, die sich die Erfindung der Menschenrechte
zurechnen); einer Lösung würde man aber deshalb auch nicht näher kommen, da
auch relative Grundrechte gegeneinander ausgespielt werden können: das Problem
hätte sich nur um eine Ebene verschoben.
Kann man das
Thema ‚Beschneidung‘ aus seinem politisch-demokratischen Kontext herauslösen?
Rabbiner
Jonathan Konits (Baltimore – Yeshiva Beis Zion Berlin) will der Beschneidung
den politischen Stachel nehmen: „Für mich
sind die Beschneidung und das Recht auf körperliche Unversehrtheit kein
Widerspruch. Die Thora verbietet Tätowierungen und Piercings. Sie ist die
führende Stimme für den Wert der körperlichen Unversehrtheit. Warum sollten
Juden diesen Wert verkennen? Das ist doch absurd. Jeder würde die Stimme
erheben, wenn eine Religion verlangte, dass man Kindern ein Bein abhacken muss.
Es ist aber doch ein Unterschied zwischen einem Bein und der Vorhaut. Die
meisten medizinischen Studien beweisen, dass die Beschneidung auch
gesundheitliche Vorteile hat. Deshalb muss man dieses Thema doch nicht
politisch debattieren. Wenn es rechtlich gesehen ein Thema ist, braucht man
eben eine juristische Sonderregelung, eine Ausnahme. Ich verstehe allerdings
nicht, warum es überhaupt dazu kommen musste.“ (Frankfurter Rundschau, Stadtbeilage Frankfurt, vom 15./16.
September 2012)
Damit wäre
sozusagen die ‚politische Luft‘ aus der Debatte gelassen; dennoch steht die
Frage, wie eine solche „juristische
Sonderregelung“ aussehen könnte, weiter im Raum. Allgemein ‒ auch von
religiöser Seite ‒ ist inzwischen unbestritten, dass die Beschneidung als
Eingriff in den Körper selbst bei Säuglingen weder physisch noch psychisch schmerzlos abläuft. Deshalb hat der
vom deutschen Bundestag eingesetzte Ethik-Rath vorgeschlagen, die Beschneidung
nur unter Einhaltung unabdingbarer gültiger Hygienevorschriften von Fachkräften
und bei geringstmöglichen schmerzhaftem Eingriff zu erlauben; das stieß
zunächst noch auf Ablehnung, widerspricht es doch jahrhundertelanger Praxis und
religiöser Begründung. Der juristisch unanfechtbarste Weg, die Beschneidung
erst bei mündigen Jugendlichen (d.h. mit 14 Jahren) vorzunehmen, scheint weder
von Seiten der Religion noch von Seiten der Politik als gangbare Option
angesehen zu werden. Und das ist wohl am
meisten zu bedauern.
In der Bundesrepublik
Deutschland wird die Beschneidung insbesondere von jüdischen Knaben aus
historisch-moralischen Gründen verteidigt. Reinhard Merkel, vom Ethik-Rat,
fasst deshalb präzise zusammen: „Die
Konsequenz aus all dem ist mit Händen zu greifen. Käme heute eine hier noch
unbekannte Religionsgemeinschaft mit dem sonst nirgendwo üblichen Brauch des
rituellen Knabenbeschneidens nach Deutschland, würde ihr das auf der Stelle
verboten. Und ginge es dabei um einen rein muslimischen Ritus, hätte der
Bundestag auf das Kölner Urteil gewiss nicht mit einem Entschließungsantrag wie
dem vor 19. Juli [2012] reagiert. Aber die Beschneidung ist ein uralter
konstitutiver Brauch des Judentums. Und damit erst ist das wirkliche Problem
der Rechtspolitik benannt. Es zu maskieren, ist sinnlos; denn erst mit dieser
Provenienz wird auch sein Gewicht deutlich. Die deutsche Politik hat wegen des
hier organisierten scheußlichsten Massenmordes der Geschichte ganz gewiss eine
weltweite singuläre Pflicht zur besonderen Sensibilität gegenüber allen
jüdischen Belangen. Daran ist nicht zu rütteln. Die Beschneidung ist
ersichtlich ein solcher Belang von besonderem Gewicht.“
Verstümmelung in Afrika, mutmaßlich begangen von Islamisten
Ob eine
Regelung über die sog. Personensorge (§1631 BGB), wie sie das deutsche
Bundesjustizministerium vorschlägt, tatsächlich von einer öffentlichen Mehrheit
getragen wird, ist nicht nur in der politischen Parteienlandschaft fraglich: „Die Personensorge umfasst auch das Recht, in
eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und
urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der
ärztlichen Kunst durchgeführt wird.“ Bewusst wird hier das religiöse
Element außen vorgelassen, doch der «Verband der Kinder- und Jugendärzte» mahnt
hier die Perspektive des betroffenen Kindes ein. Zudem bezieht sich der Zusatz
auf das „männliche Kind“, d.h. der
Allgemeinheitsgrundsatz von Gesetzen bleibt übergangen, das Recht auf
Gleichbehandlung der Geschlechter ist gebrochen.
Ein Staat wie
Deutschland wird sich hier ‒ im Hinblick auf die Erfahrung des
Nationalsozialismus ‒ eine Lösung nicht leicht machen können. Zumal inzwischen
die Rolle des Staates neu betrachtet wird: Ausgehend von den bekannten vom
nationalsozialistischen Staat angeordneten Gräueln wird diskutiert, inwiefern
der Prozess der „De-Zivilisation“
gerade die logische Fortsetzung der staatlichen Monopolisierung der Gewalt ist:
sobald die Gewalt in die Hände des Staats gelegt wurde, erwuchs daraus auch der
Imperativ, unter bestimmten Bedingungen (z.B. im Kriegsfall) das Töten sogar
zur Pflicht zu machen; im sog. Dritten
Reich konnte das bis zur Perversion getrieben werden (vgl. Himmler-Rede in
Posen vor SS-Leuten 1943). Besonders Norbert Elias hat auf diese Konsequenz der
Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staats hingewiesen. Auch deshalb
mag es bedenklich (aber auch bedenkenswert) stimmen, dass die Frage der
Beschneidung ausgerechnet in Deutschland so intensiv diskutiert wird: zeigt
sich vielleicht darin eine Staatsfixierung, gegenüber der eine „Zivilität“, in
der nicht Gesetz und Recht, sondern die Achtung des Gegenüber (Norbert Elias)
ein höherer Wert zukommen müsste?
Literatur
Bielefeldt, Heiner: Marginalisierung der Religionsfreiheit? ‒
Zum diskursiven Umfeld des Kölner Beschneidungssurteils, Erlangen-Nürnberg
2012
Elias,
Norbert: Über den Prozess der
Zivilisation ‒ Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band I
und II, Frankfurt am Main (Suhrkamp)
1972 (1969)
Freud,
Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in
die Psychoanalyse/Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse, Studien-Ausgabe (StA.) Band I, Frankfurt am Main (Fischer) 1982
ders.: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921),
in: ders., StA. Band IX, Frankfurt am Main (Fischer)
1986
ders.: Die Zukunft einer Illusion (1927), in:
ders., StA. Band IX, Frankfurt am Main (Fischer)
1986
ders.: Das Unbehagen in der Kultur (1929/30);
in: ders., StA. Band IX, Frankfurt am Main (Fischer)
1986
ders.: Totem und Tabu ‒ Einige Übereinstimmungen im
Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (1912-13), in: ders., StA. Band
IX, Frankfurt am Main (Fischer) 1986
ders.: Der Mann Moses und die monotheistische
Religion: Drei Abhandlungen (1939, 1934-38); in: ders., StA. Band IX,
Frankfurt am Main (Fischer) 1986
ders.: Über die Psychogenese eines Falles von
weiblicher Homosexualität (1920), in: StA. Band VII
ders.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
(1908), in: ders., StudA. Band V
ders.: Über infantile Sexualtheorien (1908),
in: ders., StA. Band V
ders.: Die infantile Genitalorganisation
(1923), in: ders., StA. Band V
ders.: Über die weibliche Sexualität (1931);
in: ders., StA. Band V
ders.: Einige psychischen Folgen des anatomischen
Geschlechtsunterschieds (1925), in: ders., StA. Band V
Gennep,
Arnold van: The Rites of Passage,
London (Routledge & Kegan Paul)
1965 (Erstausgabe 1960); dt.: ders.: Übergangsriten,
Frankfurt am Main (Campus) 1999
Habib,
Claude/Raynaud, Philippe: Malaise dans la
civilité?, Paris (Perrin) 2012
Hefty, Georg Paul: Strafbare Beschneidung, FAZ 28. 06. 2012
Himmler, Heinrich: Rede vor SS-Gruppenführern in Posen
am 4.10.1943, in. Bracher, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur Frankfurt/M.‑
Wien (Ullstein), 6. Auflage 1978,
S.458f.
Jäck, Hans-Peter (Hg.): Beschneidungsargumentationen, Folge 1-3, Frankfurt/M. 2013
Kant,
Immanuel: Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94), in: ders., Werkausgabe Band VIII, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1982
Luther,
Martin: Die Bibel oder die ganze Heilige
Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Dr.
Martin Luthers, Stuttgart (Bibelanstalt)
1912
Maciejewski,
Franz: Psychoanalyse und jüdisches
Gedächtnis: Freud, Beschneidung und Monotheismus, Wien (Passagen) 2002
ders.: Der Moses des Sigmund Freud. Ein
unheimlicher Bruder, Göttingen (Vandenhoeck
& Ruprecht) 2006
Malle, Louis: Au revoir les enfants,
Scénario, Paris (Gallimard) 1987
Merkel,
Reinhold: Die Haut eines Anderen, SZ
25./26. 08. 2012
Miller, Alice: La connaissance
interdite: affronter les blessures de l’enfance par la thérapie, Paris (Aubier) 1990
Navoiseau-Bertaux, Michel Hervé (alias Sigismond),
Mutilations sexuelles, le point de vue
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